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Chaos Computer Girls in der Kulturwerkstatt Reutlingen

Chaos Computer Girls in der Reutlinger Kulturwerkstatt

„Mädchen können das doch nicht!“ – ein Interview mit und über die Reutlinger Chaos Computer Girls

Mädchen fürs Programmieren begeistern – so lautet die Mission der Reutlinger Chaos Computer Girls. Wie das geht, hat uns Projektleiterin Franziska List erklärt. Erstaunlich finden wir, mit welchen Klischees sie offenbar nach wie vor zu kämpfen hat.

Mädchen im Alter von zehn bis vierzehn Jahren lernen bei den Chaos Computer Girls Grundlagen des Programmierens – und das ohne Vorkenntnisse. Das Erfolgsrezept ist eine Kombination aus engagierten Mitarbeiterinnen und jugendgerechter Technik: mithilfe von Mini-Computern, Robotern oder farbenfrohen Programmier-Umgebungen wird die komplexe Welt der Informatik sehr anschaulich vermittelt. In acht aufeinander folgenden Workshops lernen die Teilnehmerinnen, was Algorithmen sind, wo überall Code im Alltag vorkommt und was es mit Befehlsketten auf sich hat. Mithilfe von Scratch – einem spielerisch angelegten Programmier-Lernprogramm für Kinder und Jugendliche – dürfen die Chaos Computer Girls im Laufe des Kurses eigene Spiele programmieren.

Wir haben uns den Kurs näher angeschaut und waren überrascht: Was sich nach einer computerfixierten Angelegenheit anhört, entpuppt sich bei unserem Besuch als lockeres und frohes Miteinander, bei dem viel gelacht und gespielt wird. Zur Auflockerung dürfen die Mädchen zu Beginn an einem Jump-and-Run-Spiel daddeln oder einen Miniatur-Roboter per Fernsteuerung herumfahren. Dabei lernen sie ganz nebenbei, was sich durch Code alles beeinflussen lässt. Ein Beispiel: das Tablet-Game „SpriteBox“ vermittelt spielend, wie man neue Befehle sequenziert, Parameter ändert, Fehler debuggt und Loops verwendet.

Ein Lern-Puzzle über weibliche Vorbilder

Zu Beginn des achten Kurses hat sich Projektleiterin Franziska List etwas Besonderes einfallen lassen: ein Lern-Puzzle, mit dem die Mädchen berühmte Frauen der Informatik-Welt kennenlernen. Auf einem Zeitstrahl quer durch die Programmier-Geschichte sollen sie Textbausteine befestigen. Bei jedem Baustein lernen sie Frauen kennen, die Herausragendes in der Software-Branche geleistet haben – u. a. Jade Raymond, Produzentin des Computerspiels Assassin’s Creed oder Marissa Ann Mayer, die bis 2017 Chefin bei Yahoo war. Der pädagogische Nutzen des Puzzles liegt für Franziska List auf der Hand. „Wenn jemand sagt, dass Frauen nicht so gut programmieren können, dann haben die Mädchen jetzt Gegenargumente,“ erklärt sie.

Wie wichtig Vorbilder beim Einstieg in die Informatik sind, zeigt Franziska Lists Vorgeschichte:

„Den ersten Kontakt hatte ich bereits in der Kindheit, da mein Vater in den 80ern als Programmierer gearbeitet hat. So hatte ich sehr früh Zugang zu dem Thema. Statt der dritten Fremdsprache habe ich in der Schule den EDV-Kurs belegt. Dass die Softwaresprache ‚Basic‘ kurz danach obsolet war, hat mich damals tierisch aufgeregt.“

In wieweit hat Sie ihre Jugend für die jetzige Aufgabe geprägt?

„Ich habe durch den frühen Kontakt schnell kapiert, dass man als Frau nicht besser oder schlechter programmieren kann. Nach der Schule hat es aber etwas gedauert, bis ich wieder beim Programmieren gelandet bin. Im Studium habe ich viele kreative Medienprojekte begleitet – konzeptionell, organisatorisch und mit Filmschnitt. Während meiner Arbeit in der Kulturwerkstatt Reutlingen haben wir dann viele Programmier-Workshops angeboten. Dabei ist mir aufgefallen, wie sehr sich Mädchen für das Programmieren interessieren.“

Programmier-Workshops gibt es an der Kulturwerkstatt Reutlingen schon länger – auch von der Initiative Kindermedienland gefördert. Warum jetzt ein Angebot speziell für Mädchen?

„Ich wollte ein Zeichen setzen und zeigen, dass Angebote für Mädchen existieren. Dass dafür ein geschützter Rahmen existiert. Obwohl ich der Meinung bin, dass Mädchen nicht anders Programmieren lernen als die Jungen. Ich hoffe aber, dass langfristig keine geschlechterspezifischen Angebote mehr nötig sein werden.“

Die Chaos Computer Girls richten sich speziell an Mädchen. Warum sind solche Angebote notwendig?

„Jungen legen im Umgang mit Technik eine andere Selbstsicherheit an den Tag. Das führt dazu, dass sie schneller die Initiative ergreifen. In gemischten Veranstaltungen, halten sich Mädchen dann viel mehr zurück. Gerade bei gemischten Anfänger-Angeboten wollen die sich nicht nach vorne drängeln. Sobald sie aber unter sich sind, verhalten sie sich weniger angepasst und zurückhaltend. Meine Erfahrung war auch, dass Jungs erst mal eine große Klappe haben, dann aber merken, dass sie noch viel dazu lernen können. Bei Mädchen ist das umgekehrt, die trauen sich erst mal weniger zu.“

Mit welchen Klischees über Mädchen und Programmieren sind Sie bereits konfrontiert worden?

„Von den Teilnehmerinnen hat die Mehrheit am Anfang des Kurses behauptet: Mädchen können das doch nicht! Auf Nachfragen, warum das so sei, kam als Antwort ‚Weil wir Mädchen sind!‘. Daran merkt man, wie sehr das Mädchen bereits verinnerlicht haben.“

Und woher kommen solche Klischees?

„Solche Prägungen werden nicht ausschließlich im Elternhaus vermittelt, sondern auch in der Freizeit und in der Schule. In den Schulen sind nämlich diejenigen, die Informatik unterrichten, meistens männlich. Auch in außerschulischen Einrichtungen sind Frauen als Anleiterinnen in Sachen Informatik unterrepräsentiert. Und dann fehlen in der allgemeinen Wahrnehmung weibliche Vorbilder. Wenn man an wichtige Menschen in der Tech-Branche denkt, fallen einem immer erst Bill Gates oder Steve Jobs ein! Die Liste der männlichen Vorbilder ist da sehr lang. Deswegen machen wir auch immer, wie bei dem Puzzle, einen Exkurs über Frauen in der Informatik.“

Was würden Sie Eltern sagen, die behaupten, dass Programmieren nichts für Mädchen sei?

„Ich würde sie fragen, warum sie das glauben, anstatt sofort dagegen zu argumentieren. Und ich würde sie dazu ermutigen, ihren Töchtern die Möglichkeit zu geben, selbst für sich herauszufinden, ob es ihnen Spaß macht oder nicht. Letzten Endes sind solche Rollenbilder leider sehr einschränkend.“

Wie kann man Mädchen fürs Programmieren begeistern?

„Bei der Frage hat uns ganz gut eine Studie von Microsoft geholfen. Darin wurde untersucht, was Mädchen benötigen, um sich mehr für Informatik zu interessieren. Dabei kam heraus, dass sie weibliche Vorbilder und weibliche Anleitung benötigen. Dann merken sie, dass sie das auch können. Dann hat die Studie gezeigt, dass Mädchen kreative Gestaltungsmöglichkeiten wichtig sind. Die wollen mehr machen, als nur Text- und Datenverarbeitung.“

Bei den Chaos Computer Girls basteln die Teilnehmerinnen ihre eigenen Spiele. Was lernen sie dabei?

„Die lernen, ganz einfach gesagt, logisches Denken und Dinge zu hinterfragen. Durch praktische Beispiele lernen sie, was Algorithmen sind. So wie ein Tagesablauf mit Aufstehen und zur Schule gehen nach einer ganz bestimmten Reihenfolge abläuft, verhält sich das auch mit der Anordnung von Programmierbefehlen. Das hat ganz viel Bezug zur Wirklichkeit und schult das Denken. Ein positiver Nebeneffekt ist auch, dass die Teilnehmerinnen lernen, in kleinen Gruppen zu arbeiten. Die probieren untereinander ihre Spiele aus und geben sich dazu Feedback. Dieses Feedback auf Augenhöhe und nicht von oben herab hat eine sehr positive Wirkung.“

Und was lernen sie auf der technischen Ebene?

„Beim Programmieren mit Scratch lernen sie z. B. dass es verschiedene Datensorten, wie Variablen, Befehle oder Operatoren gibt. Anhand verschiedener Formen und Farben verstehen sie, dass sie diese Bausteine nicht beliebig einsetzen können, sondern nur im richtigen Zusammenhang. Extrem wichtig finde ich, dass wir ganz nebenbei den allgemeinen Umgang mit einem PC vermitteln. Viele der Teilnehmerinnen bekommen bei uns zum ersten Mal im Leben eine Maus in die Hand, weil sie zuhause ja nur Tablets oder das Smartphones nutzen. Wie man einen PC einschaltet und per Mausklick den Browser öffnet, konnten sie oftmals vorher nicht. Wenn sie zum Ende jeden Tages ihre Projekte zwischenspeichern wollen, merken sie welche verschiedenen Speichermöglichkeiten es gibt. Dass sie die online, lokal auf dem PC oder auch auf dem USB-Stick abgelegen können.“

Der Begriff „Medienkompetenz“ ist in aller Munde. Wie versteht Ihr Euren Beitrag zur „Medienkompetenz“?

„Der Begriff wird leider oft zu verkürzt gedacht. Medien finden nicht mehr nur in einem kleinen Teil des Lebens statt, sondern sind fester Alltagsbestandteil. Ohne Medien und Technik würde sehr viel in unserer Welt nicht funktionieren. Wenn man bedenkt, dass der digitale Sektor weiterhin wachsen wird und viele manuelle Tätigkeiten in Zukunft von Computern ausgeführt werden – spätestens dann muss Medienkompetenz in Lebenskompetenz umgedeutet werden! Solche Angebote wie die Chaos Computer Girls sind daher ungemein wichtig geworden, um ein Grundverständnis für die Funktionsweise von Computern zu vermitteln. Ohne dieses Grundverständnis bleiben wir passive Konsumenten, die nicht verstehen, was eigentlich passiert. Um als Erwachsener dahinter zu steigen – dafür kann schon im jungen Alter ein Grundstein gelegt werden. Und das passiert in unseren Kursen.“

Glauben Sie, dass Schülerinnen und Schüler für den Arbeitsmarkt ausreichend vorbereitet sind, wenn es um Programmier-Kenntnisse geht?

„Ich glaube, dass der Grundstein dafür in den Schulen häufig noch nicht in ausreichendem Umfang gelegt wird und dann der Anschluss schwierig ist.“

Wenn Sie unbegrenzt Ressourcen hätten – was würden Sie sich erträumen?

„Allgemein würde ich mir wünschen, dass das Thema „Coden“ viel stärker in der Schule verankert wird. Es existieren doch mittlerweile so viele tolle Werkzeuge, Apps und Programmier-Umgebungen mit denen man was anfangen kann. Nur leider werden die ganzen Möglichkeiten zu wenig ausgenutzt. Ich könnte mir vorstellen, in Schulen Projektwochen Hackathons zu veranstalten, bei denen sich alle gemäß ihrem Alter mit dem Thema auseinandersetzen können. Gerade Schulen haben da finanziell bessere Möglichkeiten als andere Einrichtungen. Da würde ich mir auch stärker eine innerstädtische Zusammenarbeit wünschen anstelle von vielen Einzelkämpfer-Projekten.“

Sie wollen Ihr Kind bei den Chaos Computer Girls anmelden?

Interessierte Eltern können ihre Kinder bereits für die zweite Jahreshälfte anmelden. Einfach eine E-Mail an f.list@kulturwerkstatt.de.

Wo findet das Angebot statt und wer kann teilnehmen?

  • Das Angebot findet in Reutlingen in der Museumstr. 7 im Haus der Jugend, 1. Stock links statt.
  • Teilnehmen können Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren.

Was kostet die Teilnahme bei den Chaos Computer Girls?

Das Angebot wird vom Kindermedienland Baden-Württemberg gefördert und ist deshalb für alle Teilnehmerinnen kostenlos.

Die Chaos Computer Girls gewannen im Februar 2019 beim Förderprogramm der Initiative „Kindermedienland Baden-Württemberg“ einen Betrag von über 9.000 Euro. Mit dem Förderprogramm „idee-bw“ unterstützt das „Kindermedienland“ ausgewählte Leuchtturm-Projekte, um die Medienbildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im Land nachhaltig zu stärken.

Kontakt

Geschäftsstelle
Kindermedienland Baden-Württemberg
Breitscheidstr. 4
70174 Stuttgart


0711- 90715- 348 oder -311

info@kindermedienland-bw.de